Über Mundstücke für Jazz-, Funk- und Rock-Saxophonisten wurden nicht nur unzählige Seiten geschrieben, es gibt auch immer mehr Auswahl, seitdem sich auch kleine Firmen – meist ehemalige Musiker, die sich zunächst dem Hobby der Herstellung von Mundstücken widmen, um schließlich zu professionellen Herstellern zu werden – am Markt behaupten können. Unter Saxophonisten sind deren neuste Produkte beliebtes Gesprächsthema, die Foren sind voller Fragen zu Ansprache, Sound und Intonation der neusten Objekte der Begierde, die natürlich ihren Preis haben.
Unter klassischen Saxophonisten herrschte jedoch lange Zeit Stille. Wo ein Jazzmusiker beinahe jährlich zu neuem Material greift (ich kenne bekannte Saxophonisten mit über 250 Mundstücken in der Schublade), vertraut ein klassischer Saxophonist meist über Jahrzehnte dem Mundstück, auf dem er gelernt hat. So stiftet der Lehrer beziehungsweise Professor ein ausgesprochen nachhaltiges Markenbewusstsein, denn es geht hier ja beileibe nicht nur um einen individuellen Sound. Im Gegenteil: Es geht darum, das Klangideal eines klassischen Tons zu treffen und gleichzeitig sämtliche Grenzbereiche des Musizierens zu ermöglichen. Hier müssen Jazzmusiker jetzt stark sein, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass sich insbesondere Saxophonisten, die zeitgenössische Musik aufführen wollen, jeden Tag aufs Neue mit den aberwitzigsten Einfällen und Herausforderungen der Komponisten herumschlagen müssen. Zirkularatmung und Slapzunge sind heute obligat und von beidem haben die meisten Jazzmusiker keine oder nur wenig Ahnung – dafür haben sie definitiv andere Qualitäten, denn das Improvisieren liegt dem Klassiker bekanntermaßen weniger.
Die Mundstück-Blatt-Kombination muss in der Klassik eine Dynamik vom vierfachen Piano bis zu einer Lautstärke ermöglichen, die den Solisten selbst über ein kraftvoll agierendes 100 Personen-Orchester inklusive Schlagwerk hebt. Ein hoher Anspruch, den zwei Hersteller konsequent bedienen: Vandoren und Selmer. Je nachdem, in welcher „Schule“, konkret: Auf welcher Hochschule bei welchem Professor man lernt, wird man den einen oder den anderen Hersteller spielen müssen, weil Professoren in dieser Hinsicht nun mal kaum Widerworte dulden. Ebenso konservativ verhielt es sich bisher mit der Blattauswahl. Vandoren „blau“, also die Blätter aus der bereits zum Kult gewordenen blauen Packung, waren und sind auch heute noch für viele das Maß aller klassischen Dinge. Selmer schließt unterdessen wieder an seine Tradition der Blattherstellung an, konnte hier aber nie über den Status eines Nischenproduzenten hinausgelangen, Brancher kennt kaum jemand und die recht grobschlächtigen Blätter der Marke Glotin gibt es überhaupt nicht mehr, falls Sie, lieber Leser, das überhaupt je kannten.
So spielen also beispielsweise Saxophonisten aus der Londeix-Schule eher Selmer, während etwa Delangle-Schüler lieber zu Vandoren greifen. Doch auf einmal bewegte sich etwas in der klassischen Ecke. Zunächst brachte Selmer neben dem altbekannten S80 das S90 heraus, das klanglich etwas heller ausfiel. Bei Vandoren war die V5-Serie eine Zeit lang Standard, doch es brauchte ein Mundstück, das Selmer-Spieler zum Wechsel verführen konnte. So entstand die Optimum-Serie – absolut keine Kopie, sondern ein völlig eigenes Konzept, das aber auf jene Saxophonisten zielte, die sich das Volumen von Vandoren in Verbindung mit der Feinheit eines Selmer S80 wünschten. Die bauten unterdessen ein Mundstück namens Concept mit runder Kammer anstelle der eckigen des Selmer S80, um sich klanglich in die andere Richtung zu bewegen. Weshalb dieser Aktivismus im traditionell eher behutsam bis behäbig agierenden Frankreich? Ganz einfach: Eine neue Generation von Solisten begann, die Klangvorstellung eines klassischen Saxophonisten nicht etwa generell zu hinterfragen, sondern vielmehr behutsam zu manipulieren.
Hilfreich war hier besonders Claude Delangle, der eines Tages sogar mit einem Vandoren-Jazzmundstück „erwischt“ worden sein soll – er klang damit so großartig wie immer, was natürlich für Impulse seitens der Schülerschaft sorgte. Moderne Komponisten wollen heute nicht mehr nur den bekannten schmelzenden Klang, sondern auch agressive, perkussive, ja knallharte Sounds, die mit herkömmlichen Mundstücken natürlich durchaus zu realisieren sind – aber mit angepasstem Material natürlich deutlich einfacher. Das brachte die Firma Vandoren dazu, nach Jahrzehnten an einem neuen Klassik-Blatt zu arbeiten. Zunächst kamen die V12-Blätter auf den Markt, doch hier hielt sich die Begeisterung der Musiker noch in Grenzen. Das vor kurzem veröffentlichte V21 hingegen schlägt derzeit ein wie eine Bombe und dürfte viele Saxophonisten dazu bringen, sich weg von den traditionellen und hin zu den neuen Blättern zu bewegen, denn diese sind deutlich flexibler, wenn es darum geht, seinen Klang an unterschiedliche Begebenheiten anzupassen.
So entstand allmählich etwas, was für den klassischen Saxophonisten eigentlich völlig neu ist: Auswahl. Für mich ein guter Grund, mich mal für längere Zeit den aus meiner persönlichen Sicht drei wichtigsten Mundstückserien beziehungsweise Konzepten zuzuwenden und diese einem Langzeittest zu unterziehen: Selmer S80, Vandoren V5-Serie und Vandoren Optimum-Serie. Wobei eines klar ist: Es ging und geht hierbei nicht um Gewinner oder Verlierer, sondern um Unterschiede und am Ende natürlich auch um Entscheidungen für die eigene Spielpraxis. Wer mich kennt, der weiß, dass es mir bei einem solchen Test nicht um technische Fragen geht: Exakte Bahnlänge, penible Vermessung der Kammer und ähnliche Dinge überlasse ich gern anderen, die sich an solchen Zahlen erfreuen, um vielleicht kurze Zeit später mal selbst ein Mundstück zu entwerfen. Mir geht es ganz praktisch um Fragen der Ansprache, des Grundklangs, der dynamischen Bandbreite und natürlich der Intonation.
Das Mundstück hat großen Einfluss auf die Intonation eines Saxophons, und da Selmer nun mal nach wie vor DAS Saxophon für klassische Saxophonisten ist, spielt das eine umso größere Rolle, denn den wirklich einzigartigen Sound eines Selmer-Saxophons erkauft man mit der generell eher schlechten Intonation des Instruments. Deshalb greifen insbesondere Amerikaner und Asiaten gern mal zu Yamaha, was mich aber klanglich nicht überzeugen kann – und ein guter Klang ist definitiv das Wichtigste. Genau so gehe ich auch an das Testen von Mundstücken heran: Der Grundklang ist entscheidend, aber selbstverständlich muss man sich zunächst an das neue Material gewöhnen. Hier macht es einem das Selmer S80 C* (die schon legendäre Bahnöffnung) leicht. Nicht umsonst wirbt Selmer damit, dass dieses Mundstück besonders geeignet für Einsteiger ist, denn es geht völlig unkompliziert los: Tolle Ansprache, guter Grundklang, der auf präsenten, samtigen Mitten und einem präsenten Obertonspektrum aufbaut sowie eine klangliche Flexibilität, die es zumindest dem Anfänger problemlos ermöglicht, sogar mal jazzy loszulegen. Nach geraumer Zeit ändert sich bei diesem Thema jedoch meist die Tonvorstellung des Spielers und das S80 C* landet in der Schublade. Schade, denn für Klassik ist das Mundstück nun eigentlich erst richtig interessant.
Es ist diese Flexibilität, die das S80 C* zu einem Verkaufsschlager gemacht hat. Will man den Grundklang beschreiben, so fällt tatsächlich das bereits zitierte Attribut Samtig in Verbindung mit Brillanz – Kraft allerdings weniger. Auf der anderen Seite der Messlatte liegt die V5-Serie von Vandoren. Als ich erstmals mit dem ausgezeichneten Saxophonisten Normand Deschenes – seinerzeit Dozent an der Hochschule Würzburg – im Quartett spielte, reichte er mir nach ein paar Minuten sein A35, die weiteste Bahnöffnung, die bei dieser Serie gerade noch die Voraussetzungen für klassische Musik erfüllt. Das war für mich Offenbarung und Herausforderung zugleich. Zunächst sind Mundstücke von Vandoren im Gegensatz zu Selmer nämlich keinesfalls unkompliziert und leicht zu verwenden. Diese Teile wollen eingespielt werden. Ihr eher massiger Aufbau mit größerem Umfang ergibt eine größere Menge an Kautschuk, die in Schwingung versetzt sein will und auch der Aufbau der Kammer erfordert Vertrautheit. In den ersten Stunden ist ein Mundstück der V5-Serie insbesondere bei Tenor und Bariton eher spröde und neigt sogar zum Kieksen. Doch nach spätestens einer Woche ändert sich das Bild vollkommen: Der Ton wird klar und sauber, die Ansprache absolut direkt und das Klangbild hell, kraftvoll, knackig und dennoch warm. Mit diesen Mundstücken kann man ein Orchester in Schach halten – für die ganz feinen Sachen, also ultraleise Passagen oder einen Ton, der förmlich zwischen den Instrumenten zu schweben scheint, wurden diese Mundstücke aber nicht unbedingt gebaut.
Das ist wohl auch der Firma Vandoren aufgefallen, und so machte man sich an die Entwicklung der Optimum-Serie, um hier verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Perfide: Die ausgezeichnete Blattschraube verführte schnell die Selmer-Spieler, es auch mal mit dem zugehörigen Mundstück zu probieren. Das wirkt im Vergleich zur V5-Serie eher gnubbelig, hat aber ebenfalls eine dickere Wandung und somit mehr Masse als ein Selmer-Mundstück. Was wiederum das Einspielen notwendig macht. Mein erster Kontakt mit diesen Mundstücken war eher distanziert. Man kann mit ihnen bereits von Anfang an beinahe wahnwitzig leise spielen, aber dennoch nicht ganz rauschfrei und vor allem nicht mit jenem 3D-Sound, der dem Selmer S80 C* zu eigen ist. Der Klang breitet sich beim Optimum anfangs nicht aus, sondern scheint topfig aus der Mitte zu klingen. Doch nach ein paar Tagen geschieht dann das Wunder: Der Sound wird immer fetter, runder und entfaltet eine einzigartige Textur. Ich weiß, das gehört in die Welt der Haptik, passt hier aber irgendwie gut, weil diese Weichheit im Bereich der unteren Mitten definitiv an ein Samtkissen erinnert. Großer Körper und gleichsam die Option, mit der entsprechenden Dosis an Kraft den Sound ins Agressive kippen zu lassen – das war genau mein Ding!
In Sachen Intonation liegt die Optimum-Serie vorn, denn hier macht sich die Flexibilität eines S80 negativ bemerkbar: Während man zwar diverse Optionen beim Ansatz hat, dafür aber gern beim E’’ deutlich übers Ziel hinausschießt, gibt das Optimum AL3 (die von mir bevorzugte Bahnöffnung) dem Saxophonisten ein Gefühl des „Einrastens“. Andere beschreiben das, als würde man auf einer Schiene fahren, die auf jeden Fall ans Ziel führt. Die V5-Serie bewegt sich hier irgendwo zwischen beiden: In der dritten Lage ist man schnell zu hoch, dafür bleibt die Basis solide. Bei den tiefen Tönen hat das S80 wieder etwas die Nase vorn: Verlangt ein Dirigent die Ahnung eines tiefen H und kein Dezibelchen mehr, so kann man das mit einem C* und einem nicht zu dicken Blatt realisieren, während das AL3 gern mit dem Saxophonisten durchgeht und vor allem klanglich eine Präsenz hat, die ultraleises Spiel zu einer echten Challenge macht. Wobei das Problem nicht technischer, sondern rein ästhetischer Natur ist: Das Pferd will rennen! Das A35 muss ab zweifachem Piano eher passen, während das A27 hier durchaus punkten kann, aber dennoch deutlich hinter dem AL3 zurückbleibt.
Bei den sogenannten „neuen Spieltechniken“ ergeben sich zumindest bei den Mehrklängen Unterschiede. Für Multiphonics ist das AL3 eine absolute Allzweckwaffe und liefert auch die exotischsten Kombinationen nach Daniel Kientzy, während das S80 gern mal den ein- oder anderen Klang zwar nicht verweigert, aber doch etwas erschwert und das A35 insbesondere bei den sensiblen Sounds die Flügel streckt. Bei anderen Techniken wie etwa der Zirkularatmung ist das S80 im Vorteil, weil die Ansprache derart direkt ist, dass man hier etwas Kraft sparen kann. Der höhere Anblaswiderstand der Optimum-Serie hat einige Vorteile, kostet hier aber etwas mehr Energie. Beim harten Staccato das gleiche Bild, weil die Mundstückspitze beim S80 sehr flach gestaltet ist. Verblüffend: Hier fällt es schwer, dem AL3 echte Härte abzugewinnen – es ist beinahe schon zu weich im Klang. Aber nur beinahe, denn das kann man üben und nach ein paar Stunden „Revolution“ von Marc Mellits ist auch dieses „Problemchen“ Geschichte.
So hat man nun also auch als klassischer Saxophonist die sogenannte Qual der Wahl, doch insbesondere bei den Außenstimmen Sopran und Bariton haben sich für mich das Optimum SL3 beziehungsweise BL3 als alternativlos herausgestellt. Hier geht es nämlich nicht immer um die solistischen, sondern auch um integrative Fähigkeiten – der akustische Rahmen eines Saxophonquartetts muss nicht nur klanglich, sondern auch intonatorisch absolut stimmen und das gelingt mir mit diesen Mundstücken wirklich hervorragend. Außerdem ist der volle, runde und nie flache Klang auch in den solistischen Passagen ein Geschenk, da einfach wunderschön. Dennoch gilt bei allen drei Konzepten: Tolles Material, von dem man im Grunde immer ein Mundstück für den passenden Anlass in der Hinterhand behalten sollte. Die Verarbeitung ist über jeden Zweifel erhaben und wer jetzt auf die Idee kommt, dass mehrere Mundstücke Luxus sind, der sei an den Anfang dieses langen Artikels verwiesen: Für ein total duftes, wahnsinnig individuelles, mit zarten Lippen aus dem Kautschukblock herausgelutschtes Jazzmundstück bekommt man bis zu vier (!) Klassik-Mundstücke. Eine Anschaffung, die sich lohnt. Für mich fällt die Entscheidung eindeutig zugunsten der Optimum-Serie aus, die nun die Pole in meinem Saxophonkoffer eingenommen hat.
Anhang: Getestet wurden natürlich nicht nur S80 C*, sondern auch andere Bahnöffnungen bis zu E, bei der V5-Serie die Öffnungen 27 und 35 und bei der Optimum-Serie die Öffnungen 3 und 4, letztere war mir immer etwas zu offen und zu hart im Klang. Die Blätter der Wahl waren Vandoren „blau“, Vandoren V21 bei Alt und Tenor, Brancher Opera sowie Hemke und D’Addario Select Jazz. Ja, das darf man auch bei der Klassik – das Ergebnis rechtfertigt hier IMMER die Mittel. Blattschrauben waren Vandoren Optimum und Brancher Metall, die qualitativ kaum einen Unterschied ergeben – beide sind wohl das Beste, was man derzeit als Ligatur auf sein Mundstück schrauben kann.